Sei doch nicht so!
Wer diesen Satz sagt, glaubt an zwei Lügen, die wohl jeder schon einmal (unbewusst) geglaubt hat:
- Lüge: Ich (oder wahlweise „du“) weiß was gut ist.
- Lüge: Du (oder wahlweise „ich“) musst dich ändern bis du gut bist.
Wobei der Satz je nach Situation und Gegenüber variiert werden kann: „Sei doch nicht so empfindlich!“ „Sei doch nicht so penibel!“ „Sei doch nicht so schüchtern!“… Sicher findet ihr eigene Beispiele.
Und diese Sätze machen nicht bei unseren vermeintlich schlechten Eigenschaften halt. Zu nahezu jedem Thema gibt es solche Sätze.
Wer bestimmt eigentlich, was gut und schlecht ist? Ist es nun wichtiger Zeit mit der Familie zu verbringen oder die Gemeinde zu bauen und für andere da zu sein? Ist es nun wichtig auf sich selbst zu achten oder gibt`s der Herr den seinen im Schlaf? Kann die eine Entscheidung für jemanden richtig sein, während sie für den anderen falsch ist? Ist das, was ich für richtig halte, für alle immer (oder auch nur für mich tatsächlich) das Richtige?
Gott ist Richter. Er entscheidet, was gut und böse ist. Wenn wir diesen Satz in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen im Auge behalten würden, dann kämen wir endlich davon ab zu glauben, unsere Wertvorstellungen müssten die der ganzen Welt, zumindest aller Christen, sein. Es gibt eben kein allgemein gültiges Maß für „genug“ Gemeindearbeit, Bibellesen, Beten, … genau so wenig, wie es bspw. ein göttliches Maß für Pünktlichkeit, Ernsthaftigkeit, Kinderzahl und Dauer der Erziehungszeit, Gelassenheit, Fröhlichkeit … gibt. Diese (und alle weiteren) Entscheidungen und Eigenschaften muss jeder im Gebet mit sich und Gott (und manchmal noch denen die betroffen sind) klären. Aber ganz bestimmt muss ich nicht für meinen Nächsten klären, was richtig ist! Und dann wird vielleicht auch deutlich, warum es „Ratschlag“ heißt.
Die Jahreslosung erinnert uns ein Jahr lang daran, worum es in Beziehungen wirklich geht: „Nehmt einander an, so wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob.“ Sollten wir das tatsächlich schaffen, dann erkennt man Christen nicht mehr daran, dass sie sonntags unausgeschlafen sind, sondern dann erkennt man uns an daran, wie wir einander begegnen und übereinander reden.
Dazu bedarf es übrigens nicht einer noch größeren Anstrengung unsererseits, sondern vor allem einer engeren Beziehung zu Jesus, denn nur sein Geist kann diese Veränderung in uns bewirken.
In diesem und Paulus (Galater 5) Sinne: Es lebe die Freiheit!
Ermahne niemanden, bevor du nicht über seine Not und Sünde geweint hast!
Wenn die Not und Sünde eines Menschen mich nicht wirklich berührt, habe ich keine geistliche Vollmacht, jemanden zu ermahnen oder zu kritisieren oder auch zu belehren. Jede geistliche Vollmacht ist in der Liebe begründet.
Lebensregeln von Dr.H.C.Rust gelesen in der Zeitschrift Aufatmen http://www.aufatmen.de
Das kann vielleicht eine erste Antwort sein. Die Zweite ist ungleich schwerer zu finden, nämlich was “richtig” ist.
Tolle Gedanken! Danke für diese ganz feine Alltagsbeobachtung. Das triffts. Wie oft wirft man jemandem sowas an den Kopf …
und gleichzeitig frage ich mich: Gibts neben dem Verurteilen und Richten auf der einen Seite und dem “muss jeder mit sich und Gott ausmachen” auf der anderen Seite noch eine 3. Seite? Dort, wo ich einen Freund liebevoll auf etwas hinweise? Habe ich jemanden, der in mein Leben reinreden darf (nicht jeder!), der mal eine Außenwahrnehmung mit ins Spiel bringt, einen Impuls, ein Hinterfragen? Ist das vielleicht auch “Annehmen”?
Und: Sind alle Glaubensdinge “privat” und individuell und flexibel und unhinterfragbar? Oder gibt es manche Dinge, wo es ein “richtig” und “falsch” gibt? Wie sieht es konkret aus, dass wir in der Gemeinde auch Verantwortung füreinander haben, nicht jeden einfach so machen lassen, wie er will?
Das geht vielleicht auch anders als Rat-schlagen und anders als “sei doch nicht so”. Wie könnte das aussehen?