Schattenreich
“Die Welt wurde aus Liebe und für die Liebe geschaffen, deshalb ist sie so verletzlich, zerbrechlich und voller Leid.”
Ann Voskamp
Ich kämpfe gegen die Schatten. Ich durchdenke, suche Wege, wehre mich, bemühe mich, versuche sie zu überwinden.
Alle Kraft investiere ich. Denn die Schatten meines Lebens machen mir Angst und belasten mich, deshalb muss ich sie loswerden. So wie jeder dagegen ankämpft. Niemand möchte mit den Schatten leben.
Sie stellen die Schuldfrage.
Wie konnte es dazu kommen, dass sie da sind und sich so ausbreiten?
Sie passen nicht in meine Vorstellung von einem Leben mit GOTT.
GOTT ist gut, ich! muss irgendwo falsch abgebogen sein.
Doch es ist egal in welche Richtung ich gehe, wie sehr ich mich mühe, bete, die Schatten bleiben. Vielleicht ist es zu spät für mich, vielleicht ist GOTT nicht immer gut.
Und plötzlich bricht in meinem Gedanken- Wirrwarr etwas Neues auf:
Ist es nicht in Wahrheit sinnlos, gegen (die eigenen) Schatten zu kämpfen?
Es ist ja faktisch unmöglich, also reine Kraftverschwendung!
Meine Schatten werden nicht verschwinden, solange es mich selber gibt.
Kann es sein, dass der Kampf gegen sie der falsche ist? Eine falsche Schlacht, die man gar nicht gewinnen kann?
Keiner will leiden. Natürlich. Zudem wird in frommen Kreisen Leid mit GOTTesferne assoziiert. Mit Versagen und Schuld. Wer nur den richtigen Weg geht, den segnet GOTT doch, also!
Aber:
“Die Abwesenheit von Leid ist nicht unbedingt ein Anzeichen für die Anwesenheit GOTTes” Sarah Keshtkaran
Das stimmt und heißt im Umkehrschluss: GOTT ist auch im Leid zu finden oder vielleicht gerade da.
Wie kann das sein?
ER selber hat das Leid zu einem Teil seiner eigenen Existenz gemacht. Das Kreuz ist das Fundament des Glaubens.
Trost gibt es nur im Leid,
alles was die Liebe in ihrem letzten Wesen ausmacht, offenbart sich erst in Schmerz und Schwierigkeiten.
Echte Gemeinschaft und Nähe entsteht dort, wo man das Dunkle teilen kann.
Was wäre die Welt ohne Trost, Liebe und Nähe und Gemeinschaft? Kalt und keinesfalls lebenswert.
Aber alle diese Dinge sind an die Existenz von Leid geknüpft.
So irrsinnig es klingen mag: Wir brauchen den Schmerz -auch um glauben und lieben zu können.
Es sind die Leidenden, die, die mit GOTT hadern, die den Glauben und was das Kreuz bedeutet, durchbuchstabieren und so mehr begreifen als die Leistenden.
Wer selbst erfahren hat, wie es sich anfühlt als Jesus schrie: “Mein GOTT mein GOTT, warum hast du mich verlassen?” begreift die Liebe GOTTes auch ganz anders. Die Tragik seiner Liebe, die Tiefe. Und er erahnt die Möglichkeit eines Sinnes in all dem Unfassbaren.
Unser Drang, Leid und Schmerz aus dem Leben vertreiben zu wollen, ist zutiefst menschlich und trotzdem oder gerade deshalb falsch. Und der Kampf ist zudem aussichtslos.
Es ist ein spezielles Phänomen unserer westlichen wohlbehüteten Welt, dass wir so sehr gegen jeglichen Schmerz ankämpfen, mit unserem Schicksal hadern und GOTT anklagen.
Warum ich? Ja, warum eigentlich nicht ich?
Je größer der Wohlstand einer Gesellschaft ist, desto größer sind auch die Ängste paradoxerweise.
Weil wir uns gegen sovieles absichern und viele Bereiche kontrollieren können, wir keine existenziellen Sorgen haben, erliegen wir dem Trugschluß, durch eigenes überlegtes Handeln unser Leben “im Griff” zu haben.
Jede mögliche Gefahr wird im Vorraus bedacht und nach Möglichkeit eliminiert. Unsere Existenz und vieles mehr ist auf einem recht hohen Standard abgesichert.
Passiert dann trotzdem etwas Schlimmes, wird sofort gefragt: “Wer hat Schuld? Wie hätte man das verhindern können?”
Dass Menschen sterben, schwer erkranken, ist überall auf der Welt schlimm. Und dennoch ist das Ausmaß der empfundenen Tragödie in westlichen Ländern viel größer. Das gilt ebenso bei Naturkatastrophen oder ganz profan der Inflation.
Die Menschen in ärmeren Ländern sind Leid gewöhnt. Es gehört für sie zum Leben dazu und sie werden davon nicht so überrascht und eingenommen wie wir.
Vor allem ist es für sie weniger ein Grund mit GOTT zu hadern und Vorwürfe an wen auch immer zu richten.
Wir Privilegierten jedoch meinen tief in uns drin, ein Recht auf ein gutes Leben zu haben – unausgesprochen und teils unbewusst.
Aber das ist ein Trugschluss.
Das Schwere ist unweigerlich Teil des Lebens und auch Teil von GOTT.
Das eliminieren zu wollen, hieße GOTT zu eliminieren und das Leben an sich.
Was die Sinnlosigkeit dieses Kampfes verdeutlicht.
Und je mehr man gegen etwas ankämpft, umso größer wird es, nimmt immer mehr Raum ein und versperrt so die (objektive) Sicht. Irgendwann kann man nichts Gutes mehr sehen und hält das dann für die Wahrheit.
Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Krieg zu beenden gegen uns selbst, das Leben, Leiden und GOTT.
Das Schlachtfeld zu verlassen samt der falschen Vorstellungen und mit dem Leid ein bisschen Frieden zu schließen. Waffenstillstand zumindest.
Ich habe keine Ahnung, ob und wie das funktioniert und es ist mit Sicherheit nicht die allumfassende Lösung für jede Situation. Aber es scheint mir einen Gedanken oder gar Versuch wert, gerade wenn es unerklärlich schwer ist, das Leben.
“Schmerz und Schönheit sind die beiden Gesichter GOTTes.” Richard Rohr
All die Schönheit der Welt und der Menschen ist ein Hinweis auf GOTT und spiegelt ihn wider.
Alles Leid und aller Schmerz der Welt und der Menschen ist ein Hinweis auf GOTT und spiegelt ihn wider.
Wer das in seiner Tiefe verstehen kann, der ist dem Wesen GOTTes nahe gekommen und kann darin echten Trost finden.
Trost, der das Leid nicht wegreden und bekämpfen will, sondern aushält, annimmt(?) und den Blick der Seele weiten kann, Perspektive schenkt über das eigene (Er)Leben hinaus.
Der Weg ist weit,
das Ziel nicht zu sehen,
die Schatten werden bleiben
und sind am Ende ja nur stille Zeugen:
Es gibt Licht!